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"Randbemerkungen" - Tagblatt vom 30.8.2020

«Klare Kritik war möglich»: Drei Ostschweizer Künstlerinnen trafen sich während eines Jahres zum künstlerischen Austausch Cristina Witzig, Beate Rudolph und Haviva Jacobson schliessen die gemeinsame Zeit mit der Ausstellung «Randbemerkungen» im St.Galler Projektraum Viereinhalb ab.


Von links: Cristina Witzig aus Weinfelden, Beate Rudolph aus St.Gallen und Haviva Jacobson aus Appenzell. Im Hintergrund die mehrteilige Arbeit «Tellerränder» von Beate Rudolph. Foto: Ralph Ribi

Über den eigenen Tellerrand schauen, das haben Cristina Witzig, Beate Rudolph und Haviva Jacobson während eines Jahres getan. Die drei

Ostschweizer Künstlerinnen haben sich in dieser Zeit regelmässig zum künstlerischen Austausch getroffen. Den Abschluss dieser Treffen bildet die Ausstellung «Randbemerkungen», die zurzeit im St.Galler Projektraum Viereinhalb zu sehen ist. Normalerweise arbeiten Künstlerinnen und Künstler allein in ihrem Atelier. Rückmeldungen auf ihre Arbeit bekommen sie selten. Das wollte Beate Rudolph ändern. Die 61-jährige St.Gallerin wünschte sich eine «sachliche und zugewandte Auseinandersetzung mit der eigenen künstlerischen Tätigkeit»: «Vom Freundeskreis wird man schnell bestätigt», sagt Rudolph. Es gebe kaum Gefässe für künstlerischen Austausch, wo keine Konkurrenzgefühle aufkämen: «Die einzigen Orte, wo dies etabliert stattfindet, sind die Akademien.»

Kunst spiegeln im «Spiegelsalon» Weil sie das Bedürfnis nach Austausch nicht nur bei sich, sondern auch bei andern spürte, suchte sie vergangenen Herbst nach Gleichgesinnten. Sie fand sie in ihrem Bekanntenkreis: mit Haviva Jacobson aus Appenzell hatte sie vor Jahren einmal gemeinsam ausgestellt, Cristina Witzig aus Weinfelden kannte sie ebenfalls flüchtig. Rudolph, die von 2013 bis 2015 den Lehrgang Bildende Kunst in St.Gallen leitete, startete also ihren ersten sogenannten «Spiegelsalon» und mietete dafür extra einen Raum. Sie wollte ihre beiden Kolleginnen nicht in ihr Atelier einladen, in ein «schon besetztes Revier». Das ganze Spiegelsalon-Projekt kommt ohne jegliche Fördermittel aus. Es ist nicht der einzige Salon, welchen Beate Rudolph ins Leben gerufen hat: Zum Schwarm-Salon lädt Rudolph jeweils Kulturinteressierte aus ihren Bekanntenkreis ein, um ihnen ein Kunstwerk vorzustellen, das sie besonders begeistert. Der dritte Salon, in welchem gemeinsam herausfordernde literarische Texte gelesen werden sollen, ist bereits in Planung. Nach den ersten paar Spiegelsalon-Treffen kam der Lockdown. Doch die

drei Frauen liessen sich davon nicht ausbremsen und trafen sich von nun an virtuell, mittels Zoom-Konferenz. Eine ambivalente Erfahrung, sagt Haviva Jacobson: «Einerseits hat es mir Energie gegeben. Aber man redet anders miteinander.» Und Cristina Witzig ergänzt: «Bei virtuellen Treffen ist man weniger direkt. Die feinen Nuancen fehlen.» Im Frühling beschlossen die drei Frauen, eine gemeinsame Ausstellung zu organisieren. Sie gaben sie das Thema «Randbemerkungen», inspiriert durch die Lage des Projektraums Viereinhalb am Rande der Altstadt, und arbeiteten danach jede für sich. In der Ausstellung sind deshalb fast ausschliesslich neue Werke zu sehen. Obwohl sie unabhängig voneinander entstanden sind, wirkt die Ausstellung wie aus einem Guss, die formalen Ähnlichkeiten sind verblüffend: Alle drei Künstlerinnen haben «Rand» als etwas Fliessendes, nicht klar Begrenztes interpretiert.


Rauminstallation von Haviva Jacobson: Der Zufall beeinflusste, wie die Pigmente und der Abdecklack auf dem Büttenpapier miteinander reagierten. Foto: Ralph Ribi

Haviva Jacobson entdeckte bei der Besichtigung des Projektraums zahlreiche Flecken an der Decke. Dies inspirierte die 58-Jährige zu einer Serie von Papierarbeiten. Sie kombinierte Abdecklack und Pigmente auf Büttenpapier, was zu unvorhersehbaren chemischen Reaktionen führte. Schliesslich bearbeitete sie die Blätter mit Blei- und Farbstift. 63 doppelseitige Blätter mit Variationen von Flecken sind entstanden, die Jacobson in Form einer Rauminstallation präsentiert.

Papierarbeiten von Cristina Witzig. Auch Cristina Witzig zeigt Papierarbeiten. Zu sehen sind zarte, gegenständliche Bleistiftzeichnungen, etwa ein geheimnisvolles, von innen heraus leuchtendes Zelt. Daneben gibt es auch ebenso ephemere, abstrakte Arbeiten – einerseits Aquarelle, andererseits Werke, bei welchen die 49-Jährige Schellack mit Tusche kombiniert.

Installation mit drei Porzellanteller, die mit Wasser und Tusche gefüllt sind, von Beate Rudolph. Beate Rudolph hat die Redensart «über den Tellerrand schauen» künstlerisch interpretiert. In Form einer Installation, die aus drei weissen Porzellantellern besteht, welche mit Wasser und schwarzer Tusche gefüllt sind. Aber auch zarte Tuschearbeiten an der Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion sind von Rudolph in der Ausstellung zu sehen. Die drei Künstlerinnen besuchten sich auch gegenseitig in ihren Ateliers. Für Haviva Jacobson, die sonst während einer Arbeitsphase niemandem Einlass gewährt, war dies eine neue Erfahrung: «Ich konnte es zulassen, weil genügend Respekt und Vertrauen da war.» Doch haben sich die Künstlerinnen tatsächlich nicht geschont und es

ausgesprochen, wenn ihnen ein Werk einer Kollegin als nicht gelungen erschien? Cristina Witzig sagt bestimmt: «Klare Kritik war möglich.» Mit der gemeinsamen Ausstellung findet der erste Spiegelsalon zwar seinen Abschluss. Beate Rudolph ist aber sicher, dass ein zweiter Salon in einer anderen Besetzung stattfinden wird.

Was nehmen die drei Künstlerinnen aus dem ersten Spiegelsalon für sich mit? «Bei mir hat eine Themenschärfung stattgefunden», sagt Beate Rudolph. Macht sie dank des Spiegelsalons nun bessere Kunst? «Ich hoffe es», sagt die Künstlerin. Auch Cristina Witzig zieht eine positive Bilanz. Der Austausch, die Reibung haben sie bereichert: «Kunst braucht immer Resonanz. Sei es vom Publikum oder von Kolleginnen oder Kollegen.» Und Haviva Jacobson, die gebürtige Israelin, hat dank des Spiegelsalons nicht nur die Redensart «Über den Tellerrand schauen» gelernt. Sondern sie war auch zum ersten Mal in ihrem Leben in Weinfelden – im Atelier von Cristina Witzig.

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