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Ein Fächer voller Geschichten - von Tabea Wick für thurgaukultur.ch

4.7.2023

Die Kunstausstellung «Der Fächer» gibt einen Einblick in das bildnerische Schaffen und in die Realität von demenzerkrankten Menschen. Sie ist noch bis 6. Juli im Haffter-Keller in Weinfelden zu sehen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)


«Komm doch einmal zu uns ins Atelier!». Mit diesem Satz begann sich «Der Fächer» zu, (er)öffnen, als Kunsttherapeut und Leiter des Offenen Ateliers der Alterstagesklinik Weinfelden, Thomas Meng, die Künstlerin Cristina Witzig bei der Gruppenausstellung «Über den Wolken» im Kunstmuseum Thurgau kennenlernte.

Die Künstlerin, die in Weinfelden lebt, nahm die Einladung an und kam, wie sie es beschreibt aus ihrem eigenen Atelier, aus ihrer Kapsel heraus und in einen offenen Raum hinein. Das Offene Atelier wird zum einen durch die Besucher:innen der anliegenden Alterstagesklinik benutzt, aber auch von anderen Menschen, welche zur Tagesstruktur und zur Kunsttherapie kommen. Wie ich selbst zum Beispiel.


Die Künstlerin arbeitet im Offenen Atelier

«Es ist ein Ort, wo Geschichten und Generationen zusammenkommen», erklärt Thomas Meng seinen Arbeitsplatz. Inspiriert davon, wie die Gäste der Alterstagesklinik, trotz, oder genau auch aufgrund ihrer Demenzerkrankung, Kunst schaffen, beschloss Cristina Witzig an einer Ausstellung mit diesen Werken zu feilen. Ein Jahr lang hat Witzig das Atelier einmal in der Woche besucht und sich mit verschiedenen Leuten unterhalten, während sie Kunst aus dem Offenen Atelier sammelte. Für die Gäste der Alterstagesklinik ein Highlight, so erschien es auch mir.

Wenn ich im Atelier am Malen war, bemerkte ich, dass scheinbar alle einmal mit Cristina Witzig sprechen wollten. «Ich musste gar nicht aktiv nach einem Gespräch suchen», sagt Cristina Witzig, «Die Menschen waren mir gegenüber sehr offen und fragten einfach drauf los: ‘Was machst du hier? Ich habe dich hier noch nie gesehen’ oder ‘Was schreibst du da auf?’ Oft redeten wir gar nicht über Kunst an sich, sondern hatten einfach Alltagsgespräche»


«Es geht bei ihrem Schaffen immer um Erinnerungen. So zeichnen einige Leute Familienportraits oder Dinge, die trotz dem Vergessen im Gedächtnis geblieben sind.»

Cristina Witzig, Künstlerin


Trotzdem habe sich für Cristina Witzig immer mehr gezeigt, wie Menschen mit Demenz Kunst machen. «Es geht bei ihrem Schaffen immer um Erinnerungen. So zeichnen einige Leute Familienportraits oder Dinge, die trotz dem Vergessen im Gedächtnis geblieben sind. Auch ich selbst arbeite viel mit dem Thema der Erinnerung, was für mich noch Beweggrund mehr war, mit den Besucher:innen des Offenen Ateliers ein gemeinsames Projekt zu gestalten».

Der Künstlerin sei es dabei wichtig gewesen nicht in die Werke der Atelierbesucher:innen einzugreifen. Die Bilder, Basteleien und Tonfiguren haben die Alterstagesklinik-Besucher:innen alle selbst gestaltet. Cristina Witzigs Beitrag zeigt sich in der Ausstellung Der Fächer vielmehr durchs Interpretieren der geschaffenen Kunst. «Ich habe mich gefragt, wie man aus etwas fremdem etwas eigenes schafft», sagt sie dazu.


Künstlerin schafft einen neuen Betrachtungswinkel

An den in fächerähnlich angeordneten Kartonwänden, welche Thomas Meng selbst zusammengezimmert hat, hängen Bilder, die Cristina Witzig im Dialog mit ihren Erschaffer:innen bedacht ausgesucht hat. In ihrer Abfolge schaffen sie eine Art Geschichte oder Fluss, die sich durch die Ausstellung ziehen.

Der Beitrag der Künstlerin sei das Nachdenken über die Kunstwerke. So hat Cristina Witzig diesen «Bilderfluss» mit Anekdoten in Form von Texten und Kopien aus Büchern und Zeitschriften, die sie im Offenen Atelier fand, geschmückt und ihnen so einen neuen Betrachtungswinkel gegeben.


Ziel: Andere Zusammenhänge wahrnehmen

«Der Fächer ist ja etwas, das sich öffnet. Und erst dann sieht man all seine Facetten und sein Gesamtbild», erklärt Cristina Witzig. Die fächerartige Form der Kunstinstallation erlaubt es, wortwörtlich verschiedene Blickwinkel einzunehmen und andere Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bildern wahrzunehmen.

«Malen hilft ein schwieriges Leben in verschiedenen Farben sehen zu können», zitiert die Geriaterin Irene Bopp eine Kunsttherapeutin aus der Memory Clinic. Irene Bopp hat die Memory Clinic in Zürich, welche Menschen mit Demenz behandelt, aufgebaut. Sie hat anlässlich der Vernissage einen poetischen Impuls zum Thema «Kunst, Krankheit, Genialität» verfasst.


Ein Genie, das sich nicht mehr ankleiden kann

Als Expertin berichtet sie von einem an Demenz erkrankten Mann, welcher spontan auf poetische Art und Weise sein Leid aufgrund des Vergessens schilderte: «Ich weiss, was ich sage, weiss aber nicht mehr, was ich gesagt habe». Ein grosses Genie, obwohl er sich nicht mehr selbst ankleiden kann. Passend dazu ist in der Ausstellung ein Bild mit einem selbst verfassten Gedicht zu sehen, bei dessen Anblick ich mir dachte: «Das könnte ich im Leben nicht so gut schreiben»

Als ich kurz vor der Eröffnung eine Besucherin des Ateliers fragte, ob sie auch etwas für die Ausstellung gemalt hat, verneinte sie. Ich war sehr verwundert, denn sie war stets engagiert und offen für Neues. «Du hast also nichts gemacht?», fragte ich nach. «Doch. Das Grösste von allen!» Ausgehend davon, dass sie meine erste Frage missverstanden hat, fragte ich nach: «Also Deins ist das grösste Bild?» «Du hast mir nicht zugehört», antwortete sie keck: «Meins ist einfach das Grösste». Und ich begriff, dass nicht sie mich falsch verstand, sondern ich sie. Denn in der Ausstellung sah ich das grösste Stück: ein Kartonhäuschen, in dem sich eine Landschaft befindet.


«Sehr eindrücklich war aber, wie die kommende Ausstellung ein gemeinsames Thema wurde für die Menschen im Atelier. Es war aufregend und alle haben sich darüber ausgetauscht.»

Thomas Meng, Kunsttherapeut


«Bei einer Demenz verändert sich die Wahrnehmung der Realität», erklärt Irene Bopp und zitiert später Frida Kahlo: «Ich male nie Träume oder Alpträume. Ich male meine eigene Realität». Durch die gemeinsame Ausstellung mit Cristina Witzig sei aber für viele Besucher:innen der Alterstagesklinik eine gemeinsame Realität entstanden.

«Viele Leute haben mit einem anderen Blick gemalt, als sie wussten, dass sie ein Bild für die Ausstellung machen wollen. Sehr eindrücklich war aber, wie die kommende Ausstellung ein gemeinsames Thema wurde für die Menschen im Atelier. Es war aufregend und alle haben sich darüber ausgetauscht», erzählt der Kunsttherapeut Thomas Meng.


Entfaltung von noch vorhandenem Potenzial

Die Ausstellung eröffnend wünscht sich Irene Bopp einen Fächer auch in Therapie und Medizin zu haben. Ein facettenreiches Behandlungsangebot für Menschen mit Demenz. Es soll nicht nur mit Medikamenten behandelt werden, sondern vor allem über Entfaltung von noch vorhandenem Potenzial. Zum Beispiel eben durch Kunsttherapie oder so einen Anlass, wie diese gemeinsame Ausstellung.


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